Was wir aus der Eheforschung von John Gottman lernen können
«Du denkst immer nur an dich!» – ein Satz, der in vielen Beziehungen fällt. Und oft gar nicht so sehr mit Egoismus zu tun hat, sondern mit ganz normalen, menschlichen Unterschieden. Der Psychologe John Gottman hat über Jahrzehnte hinweg Paare beim Streiten beobachtet – und daraus erstaunlich präzise Muster abgeleitet, die vorhersagen, ob eine Beziehung hält oder scheitert. Seine Erkenntnisse sind nicht nur faszinierend – sie könnten vielen Beziehungen helfen, wenn wir sie denn beherzigen würden.
1. Streiten über Unlösbares – und trotzdem glücklich sein
Laut Gottman drehen sich 69 % aller Konflikte in Beziehungen um sogenannte «ewige Probleme». Es geht also gar nicht darum, ob der Abwasch heute oder morgen gemacht wird. Sondern darum, dass zwei Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Persönlichkeiten und Werten aufeinandertreffen.
Beispiel: Einer ist planvoll, der andere spontan. Der eine liebt Ordnung, der andere lebt lieber im kreativen Chaos. Diese Unterschiede bleiben. Es geht nicht darum, sie zu beseitigen – sondern sie anzuerkennen und respektvoll mit ihnen umzugehen.
👉 Tipp: Frag dich bei einem Streit: Ist das gerade ein Einzelfall – oder ein Ausdruck grundsätzlicher Unterschiede zwischen uns? Wenn Letzteres zutrifft, geht es weniger ums Gewinnen als ums Verständnis.
2. Wie wir streiten, ist wichtiger als worüber
Gottman konnte in Studien mit über 90 % Genauigkeit vorhersagen, ob ein Paar zusammenbleibt – allein anhand von 15 Minuten Streitgespräch. Entscheidend sind dabei vier negative Muster, die er als die «vier apokalyptischen Reiter» bezeichnete:
- Kritik am Charakter: «Du bist immer so …»
- Abwehr und Gegenangriff: «Du bist ja auch nie …»
- Verachtung: Augenrollen, Sarkasmus, Spott
- Mauern: Rückzug, Schweigen, Gesprächsverweigerung
Besonders zerstörerisch: Verachtung. Sie untergräbt Respekt und Nähe. Umgekehrt entdeckte Gottman auch eine Schutzformel: das Verhältnis 5:1. Fünf positive Interaktionen für jede negative. Lächeln, Verständnis zeigen, Humor – sie neutralisieren Konflikte.
👉 Tipp: Erkennst du einen der Reiter in eurem Streitverhalten wieder? Fang bei dir selbst an, das Muster zu unterbrechen – und ersetze es durch ein positives Signal.
3. Stress ist der wahre Beziehungskiller
Ob Ikea-Möbel oder Alltagschaos – Stress bringt oft das Schlechteste in uns zum Vorschein. Der Zürcher Paarforscher Guy Bodenmann zeigt, wie selbst stabile Paare unter externem Druck ins Straucheln geraten. Der Herzschlag beschleunigt, die Stimme wird schärfer, die Toleranz schwindet.
Bodenmanns Rat: Streit unterbrechen, wenn einer überflutet ist. 20 bis 30 Minuten Pause, bis der Puls sinkt, können Wunder wirken.
👉 Tipp: Wenn du merkst, dass du nicht mehr klar denken kannst – raus aus dem Gespräch. Mach einen Spaziergang, atme tief durch, komm wieder runter. Erst dann: weiterreden.
4. Bedürfnisse erkennen, statt Kämpfe führen
Oft eskalieren Konflikte, weil wir sie als Machtspiel sehen – wer gewinnt, wer verliert? Dabei geht es eigentlich um Bedürfnisse: nach Ruhe, Nähe, Freiheit, Zugehörigkeit. Wer sich frühzeitig öffnet und erklärt, warum ihm etwas wichtig ist, lädt den anderen zur Kooperation ein.
Bodenmann empfiehlt emotionale Selbstöffnung: Sag, was du fühlst – nicht, was der andere falsch macht.
👉 Tipp: Statt «Immer musst du …!» lieber: «Ich bin traurig, weil …» oder «Ich fühle mich überfordert, wenn …» Das öffnet die Tür zu echter Verbindung.
5. Die kleinen Momente machen den Unterschied
Nicht der grosse Krach entscheidet über die Zukunft einer Beziehung – sondern die vielen kleinen Situationen dazwischen. Ein Satz aus der Zeitung, ein Lächeln, ein geteiltes Bild – laut Gottman nennt man das Annäherungsversuche. Reagiert dein Partner darauf mit Aufmerksamkeit oder Ablehnung?
Gottman fand heraus: Wer in 86 % dieser Mini-Momente positiv reagiert, bleibt eher glücklich. Wer sich abwendet oder abblockt, riskiert Entfremdung.
👉 Tipp: Nimm die kleinen Signale deines Partners wahr – und antworte mit Zuwendung. Jede positive Reaktion zahlt auf euer Beziehungskonto ein.
Fazit: Einfacher Erfolg auch in der Liebe
Was für die Karriere gilt, gilt auch für die Beziehung: Erfolg basiert auf klugen Gewohnheiten, emotionaler Intelligenz – und der Bereitschaft, sich selbst zu reflektieren.
Streiten ist normal. Entscheidend ist, wie.
Verschiedenheit ist normal. Entscheidend ist, wie wir damit umgehen.
Stress ist normal. Entscheidend ist, ob wir ihn gemeinsam bewältigen.
In diesem Sinne: Streitet euch! Aber richtig.
📚 Quelle:
Barbara Klingbacher (Text) und Ida Götz (Illustrationen): «Du denkst immer nur an dich!», Neue Zürcher Zeitung, 29.03.2025.
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